Demut und Glück
(erste Fassung der Szene, in der Antonia wegläuft und sich
versteckt)
... dass eine Hand nach meinem Fußknöchel griff. Als
erstes dachte ich an den Hans, als zweites daran, dass eine der
Wurzeln nach mir gegriffen hatte. Ich zog an meinem Bein, bekam es
frei, flog auf die Schulter, drehte mich um und beruhigte mich
sofort.
Eigentlich war ich nur wahnsinnig überrascht.
Ich musste wohl geschrien haben.
Also zumindest hatte irgendwer geschrien und ich denke,
ich war es selber gewesen. Yvette war immer noch hinter der Wurzel.
Und bis sie bei mir war, war ich zu Antonia in das Loch gekrochen.
Aus ihrem dreckigen Gesicht funkelten ihre blauen Augen.
Sie war ganz blass und von ihr ging eine tierische Hitze aus.
„Du
bist krank“, flüsterte ich.
Sie legte den Zeigefinger auf die Lippen.
Das Loch, in dem wir zusammen steckten, war unter einem
Stapel. Dass dies ein Stapel war, erkannte man nur von hier unten, wo
wir lagen. Man konnte durch die Ritze zwischen den Stämmen sehen.
Ich hatte es vorher für einen Hügel gehalten. Sicher würde auch
Yvette nur einen Hügel sehen. Einen Hügel und sonst nichts.
Yvette kam um die Wurzel geschlendert. Wütend. „Was
schreist du denn so?“
Verblüfft. „Ey!“
Ärgerlich. „Lass den Scheiß!“
Ängstlich.
Sie stand breitbeinig, schaute links, rechts, links,
rechts. So schnell, dass es fast schon ein Kopfschütteln war. Dann
hockte sie sich hin. Super schnell. Als hätten ihre Knie
nachgegeben. Das Gras war hüfthoch. Yvette verschwand bis zu den
Schultern darin.
Antonia atmete ruhig neben mir. Meine Atmung ging etwas
schneller. Yvette hechelte richtig. Dann heulte sie. Nicht so ein
bisschen, wie wenn man ratlos ist. Sie heulte so, wie wenn man echt
nicht weiter weiß, weil man denkt, man steckt in einem echten
unterirdisch-scheiße Moment und man wird nie wieder in einem anderen
sein.
Dann schlug sich Yvette ins Gesicht. Sich selbst. Das
Klatschen hing kurz im Wald, dann übernahm das friedliche Rauschen
des Baches wieder. Yvette wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel.
Dann stand sie auf.
„Suchsuch“,
sagte sie zu Zack. Der schaute sie ergeben an. „FussFuss, genau!“
Das war der Moment, wo es unmöglich war mit einem
lustigen „Buh!“ aus der Höhle zu kommen. Ich war unsicher, was
Antonia eigentlich bezweckte. Ihre Hitze an meiner Seite übermittelte
mir nichts von ihren Absichten. Sie lag da und schaute gebannt in den
Wald hinaus. Sie war krank.
Und dann lagen wir in dieser nassen Kuhle. Lagen und
lagen. Ich dachte an die anderen. Dass sie sich Sorgen machten. Ich
dachte an Blasenentzündung. Das sagte meine Mutter immer, sobald
irgendwo der Boden kalt war. Ich lag, wie ich hinein geschlüpft war.
Ich hatte mich rückwärts rein geschoben, dabei meine Füße
überdehnt, weil das Loch hinten schmaler wurde. Danach hatte ich
mich nicht mehr bewegt. Ich wollte kein Geräusch machen. Wenn es am
Anfang noch weh tat, waren es jetzt gar nicht mehr meine Füße.
Hinten könnte ein Tier daran fressen. Wäre mir egal.
Immer wenn ich Antonia ansah, sah sie irgendwie
erleuchtet aus. Blass und glücklich. Sie war vielleicht in einem
Zustand, wo sie mal was essen sollte oder ein Medikament brauchte.
Immerhin war sie seit drei Tagen erkältet. Ich hatte Lust mit ihr zu
schimpfen. Alle machen sich Sorgen, Dummheiten und sowas. Aber ich
war nicht mehr in der Postion über Dummheiten zu schimpfen. Ich
steckte in einer Dummheit, in einer nassen, ungemütlichen.
Yvette war auf die Wurzel geklettert. Mit der gleichen
Geschicklichkeit und Gleichgültigkeit mit der sie lief und sprang.
Sie setzte sich oben hin und ließ die Beine baumeln, Angeln für
unsichtbare Luftfische ausgeworfen. Sie zauberte von irgendwo
Zigaretten her und rauchte eine.
Je mehr Zeit verging, um so undenkbarer wurde es einfach
raus zukommen. Warum? Warum jetzt? Warum nicht früher schon? Es wäre
echt nur peinlich gewesen. Antonia war Antonia, ein Kind, noch dazu
eins mit Fieber wie es aussah. Aber ich war immerhin 14???. Es gab
keinen Grund, hier in diesem Loch zu liegen. Außer dem, liegen zu
bleiben. Und es gab keinen anderen Grund, liegen zu bleiben als den,
dass man schon so lange hier lag. Also lag ich hier, weil ich hier
lag. Weiter gedacht hieße das aber, dass, wenn Yvette dort sitzen
blieb und die Unmöglichkeit mit jeder Minute stieg, wir hier drin
sterben würden. Und das auch noch total unnötig.
Was hatte Yvette gesagt? Je länger man wartet, um so
schwieriger wird es. Sie steckte also auch in so einer Art Loch und
konnte nicht heraus.
Spannend war das! Super aufregend. Bescheuert und toll.
Irgendwann würde es dunkel werden. In einer Stunde
vielleicht.
Ich gab uns noch ein paar Minuten und nach dem
Verstreichen dieser noch ein paar. Irgendwann als ich fast vergessen
hatte, was ich hier tat, stand Yvette auf und kam zu uns herüber.
Sie drehte uns den Rücken zu, zog die Hose runter und
pisste genau vor unser Versteck. Ich legte ganz langsam mein Gesicht
auf den Waldboden. Ich glaube, keiner der Menschen die eine höhere
Einsicht hatten, wussten vorher, wann es passieren wird. Und
sicherlich war es nicht immer auf hohen Bergen mit schöner Aussicht,
dass man irgendetwas verstand, dass so grundlegend war, dass man es
gar nicht erklären konnte.
Als ich mein Gesicht auf den Boden legte und die Erde
roch, die Mädchenpisse und der Zigarettengeruch von Yvette, wusste
ich etwas, das ich danach wieder vergaß. Irgendwas über Demut und
Glück.