(Yvette heißt Christina und sie ruft mit einem Handy
aus Spaß die Polizei an. Da waren es 10 Mädchen. 10!)
Chrissy machte die Stimme von Inken nach. „Mädchen,
alle bei mir. Ruhe jetzt“, rief sie. Als das iPhone in ihrer Hand
landete, tippte sie ein bisschen darauf herum. Dann legte sie ihren
Zeigefinger auf ihre Lippen und begann zu sprechen. Wir starrten sie
gebannt an und unterdrückten unser Lachen. Mimiko kicherte in ihre
Sternenjacke. Ich hielt meinen Mund fest, als ob er abplatzen könnte.
„Hallo?
Hier ist Inken Utpaddel-Schönebohn. Ich habe 10 alberne Mädchen in
meiner Gewalt. SEID RUHIG! ALLE SIND JETZT RUHIG!“ Chrissy konnte
Inkens Stimme wirklich saugut nachmachen, vor allem den schnellen
Wechsel vom Säuseln zum Ausrasten. „Ich verlange hunderttausend
Euro in ...“ Chrissy wedelte mit der Hand, damit wir ruhig wären
und sprach dann weiter: „Ich verlange hunderttausend Euro in
großen, nicht markierten Halsketten. Die Übergabe findet statt:
übermorgen in Hamburg. Wenn die Polizei in die Sache reingezogen
wird, dann … ach so, sie sind die Polizei? Dann habe ich mich
verwählt. IHR SOLLT RUHIG SEIN! HAT EINE VON EUCH EINEN KAUGUMMI?“
Chrissy nahm das Gerät vom Ohr und rief: „Was mache
ich denn hier? Handys sind doch verboten.“
Wir hielten uns die Bäuche. Als Bea aus dem
Bedürfnisbusch zurück kam und uns lachend am Boden fand, konnte ihr
gar keiner erzählen, was passiert war. Wir waren alle so außer Rand
und Band.
„Schschsch“,
sagte Bea und hob und senkte ihre Hände leicht vor sich. Damit hätte
sie sofort jedes scheue Tier beruhigt, aber bei uns dauerte es etwas
länger.
Als erste konnte die Schöne wieder sprechen. Sie sagte:
„Chrissy hat Inken nachgemacht und so getan, als hätte sie bei der
Polizei angerufen. Um ein Lösegeld zu erpressen, weil sie uns
entführt hat.“
„Ich
hab nicht so getan“, sagte Chrissy und alle lachten.
„Ich
hab echt nicht nur so getan“, und alle lachten immer noch.
„Du
hast nicht, während ich mal kurz pinkeln war, die Polizei angerufen?
Du weißt genau, dass ich dagegen gewesen wäre.“
Chrissy nickte. „Ich habe die Polizei angerufen.
Vielleicht gerade, weil du eben mal kurz pinkeln warst. Ich kann
machen was ich will. Du bist nicht die Anführerin.“
Sie standen kurz voreinander und bohrten ihre Blicke
ineinander.
„Gib
her!“, sagte Bea zu Mimiko und hielt ohne hinzusehen ihre Hand als
Ablagefläche hin. Mimiko lief zu ihr und legte das iPhone darauf.
Für mich sah es schon aus, als wäre Bea die Anführerin. Wir hörten
ja alle auf sie.
Bea tippte auf dem Display herum. Wahlwiederholung
wahrscheinlich, dachte ich. Dann zogen sich ihre Augenbrauen zur
Beratung zusammen.
„Bist
du flach im Kopf?“, fragte Bea ganz leise. Man konnte eine
Stecknadel liegen hören.
Chrissy hatte also echt bei der Polizei angerufen.
In den nächsten Minuten war ich das erste Mal in meinem
Leben froh, dass ich ich war, denn wenn ich Chrissy gewesen wäre und
Bea hätte mich so zur Sau gemachte, ich hätte fünf Jahre
gestottert. Be-be-be-bestimmt.
An Chrissy perlte das ab. Sie sah aus, als wäre sie so
was gewöhnt. Als duschte sie morgens in Beschimpfungen anstatt in
einer Duschkabine. Nicht mal hier-rein-da-raus. Einfach:
Hier-nicht-rein und da-auch-nicht-rein.
Bea spuckte auf den Boden. Chrissy auch.
Danach war Ruhe. Die Vögel versuchten weiter zu
schlafen. Die Wildschweine rüffelten weiter durch das Unterholz.
Wir saßen eine Weile stumm und eine jede hing ihren
Gedanken nach.
Stimmte es, was Bea gesagt hatte? War es so schlimm,
dass Chrissy bei der Polizei angerufen hatte? Jetzt waren wir nicht
mehr frei? Wieso sollten sie diesen blöden Anruf ernst nehmen und
uns suchen? Die wussten doch gar nichts von irgendeinem Camp. Die
überprüften doch nicht jeden Scherzanruf, oder? Wenn irgendwo
angeblich eine Nachbarin mit ihrer geschwollenen Hand in einem
Briefkasten stecken geblieben war, dann winkten die doch nur ab und
wussten, dass das ein Scherz war, oder?
Und vor allem fragte ich mich, ob es stimmte, dass da wo
andere ein Gehirn haben, Chrissy ein Loch hat. So groß wie Belgien.
Hatte Bea gesagt. Und war Belgien eigentlich groß? Und war Chrissy
wirklich so dumm wie sieben Meter Bratwurst? Hatte Bea auch gesagt.
Chrissy hatte darauf geantwortet: „Und du riechst so!“
Das schlimmste. was uns passieren konnte, war, dass man
unseren Eltern Bescheid sagte und die sich Sorgen machten und dann
mussten wir nach Hause. Ich musste dann zur Oma, den restlichen
Sommer bei lebendigem Leibe veröden und abends sandige und zu
scharfe Gartenradieschen essen und auch noch ständig bestätigen,
dass es frisch aus dem Garten doch am besten schmecke.
Ich wollte nicht, dass es vorbei war, aber mir fiel
nichts ein, wie ich es verhindern könnte.
Chrissy grinste und sagte, wir hätten alle keine
Ahnung. Wir wären noch nicht mal an etwas wie Ahnung vorbei
gelaufen. Inken würde auf jeden Fall nach uns suchen lassen und uns
irgendeinen Scheiß anhängen.
„Warum
sollte sie denn so was machen?“, piepste Antonias kleine Stimme aus
der Dunkelheit.
„Glaub
mir, so ist sie.“
Ich fand es bescheuert, dass Chrissy sich da so sicher
war. Ich glaubte nicht daran, dass Inken so was machen würde. Echt,
warum sollte sie? Also, sie hatte einen Piepmatz ohne Schulbildung in
ihrem Kopf wohnen, aber sie war doch nicht irre. Oder war sie irre?
Vermutlich konnten nur Irre Irre erkennen und Chrissy war selber
irre.
„Inken
wird nichts dergleichen tun!“, sagte die Muskulöse mit ihrer
schweren Stimme. Auch ihre Stimme war muskulös. Alles was sie sagte,
klang glatt und dunkel. „Die macht gar nichts mehr. Ich schätze,
sie ist tot.“
Mimikos iPhone wanderte von einer Hand zur anderen. Wir
tippten alle auf der Navigations-App herum und zeigten uns
gegenseitig, wo wir waren. Da stand tatsächlich, dass das
Baracken-Gelände das ehemalige Pionierferienlager Ernst Thälmann
war. Alle applaudierten für Melissa, die es ja am Vortag gesagt
hatte. Mir ging das runter wie Öl. Melissa auch.
„Fünf
Kilometer bis Bad Heiligen“, sagte Mimiko.
Der Navi zeigte an, dass es dort einen Bahnhof gab. Die
ersten Züge würden in vier Stunden fahren. Alle nach Süden. Aber
das war doch okay. Wir wollten irgendwohin. Warum nicht nach Süden?
Wir waren frei. So frei waren wir nie wieder.
Sie alle schauten fragend Chrissy an.
Die ließ sich nicht lange bitten und erzählte endlich,
was passiert war. Inken, bzw. die Zippe, wie Chrissy sie nannte,
hatte gesagt, dass wir ihr allesamt egal wären, denn sie hätte das
Geld und jetzt würde sie damit abzischen. Wir könnten ruhig hier
verrecken in dem alten DDR-Ferienlager. Und wenn Chrissy versuchen
würde, ihr Handy aus Inkens Hosentasche zu nehmen, dann würde sie
sie abknallen.
„Wahrscheinlich hatte sie gar keine Pistole”, hob
Chrissy wieder an. „Nein, ich denke, sie hatte keine Pistole. Ist
doch Quatsch. Warum sollte sie eine haben? Und selbst wenn, dann wäre
die doch nass geworden in der Pfütze und hätte nicht mehr
geschossen, oder?”
Sie war so schnell mit ihrer Meinungsänderung, wie
einer dieser Türburschen, der in der Lobby eines Hotels steht und
los spurtet, wenn ein Gast kommt und fast die Klinke selbst berührt
hätte. Bei teuren Hotels ist es wahrscheinlich verboten, die Klinke
selbst zu berühren. So kam mir Chrissy vor. Noch bevor irgendeine
von uns Zweifel bekommen konnte, bekam sie lieber selber welche. Denn
entweder hatte Inken gelogen oder Chrissy log gerade. Jetzt war es
klar: Inken musste also gelogen haben. Ich als Schlaufrau aus dem
Rätselforum wusste aber, dass es auch zwei falsche Lösungen geben
konnte. Wenn man annahm, dass die Lösung eines Rätsels immer
„entweder oder“ war, dann lag man schon mal total falsch, denn
sowohl „entweder“ konnte falsch sein, aber auch „oder“. Oder
„entweder“ war richtig und „oder auch“. Also hatten Inken und
Chrissy gelogen oder vielleicht beide die Wahrheit gesagt?
Chrissy zuckte die Achseln. „Ich hatte echt Schiss. Da
hab ich nicht so nachgedacht. Soll sie doch da ertrinken in der
Pfütze. Die alte Zippe.” Man konnte hören, dass Chrissy grinste
bei den Worten. Ich fand es übertrieben, jemanden so zu hassen,
wegen eines Handys. Außerdem war es Schwachsinn, dass sie in der
Pfütze ertrinken würde. So tief war die nun auch wieder nicht. Oder
doch? Ertrank man, wenn man besoffen war? Ich musste mal den
fröhlichtraurigen Thomas aus dem Kiosk am Bahnhof fragen. Der saß
dort immer und wenn er nicht fröhlich war, war er traurig. Über
Suff wusste der bestimmt alles. Er aß nie etwas, er trank nur.
„Wie hat sie gerochen?”, fragte Alma.
„Was?”, fragte Chrissy verdattert.
„Wie sie gerochen hat!”
„Jedenfalls nicht nach Alkohol. Darüber habe ich mich
noch gewundert.”
Alle sahen Alma an. Warum wollte sie das wissen?
„Die Pfütze hat so gestunken. Ich weiß nicht”,
sagte Chrissy. „vielleicht nach fauligem Apfel oder so.”
Ein Handy piepte.
Wie in den Arsch gezwickt, sprang Chrissy auf. „Wer
hat hier ein Handy?”, zischte sie.
„Wieso? Dürfen wir keins haben?”, fragte Melissa
gespielt erschrocken. Alle lachten. Ich schwöre, der Wald knackte
ein Menschenknacken. Jetzt hatte ich schon Verfolgungswahn.
Mimiko hielt ein iPhone hoch. Blau leuchtete unsere
Rettung in die Nacht.
„Nur
eine SMS von meinem Bruder. Hier hab ich wieder Empfang.“ Mimikos
Fingerkuppen tippelten und wischten über das Display. „Jetzt ist
der Empfang wieder weg. Nur Notrufe.“
Wieso hast du das nicht vorher schon raus geholt?”,
fragte Chrissy.
„Weil es dann jetzt weg wäre, so wie deins.”
Einige kicherten.
„Gib
es her!”, sagte Chrissy. „Ich will die Polizei rufen. Ist doch
ein Notruf.” Sie ging auf Mimiko zu. Die steckte schnell das Gerät
in die Tasche ihre Kapuzenjacke. Eine glitzernde Jacke voller grüner
Sterne. Der Mond tanzte funkelnd darauf herum. Jetzt wusste ich
endlich, was eine Nachtjacke war. Das war gleich nach Klappspaten das
Lieblingsschimpfwort meines Vaters. Richtige Dorf-Schimpfwörter.